Zu bürokratisch, die reinste Geldverschwendung: Die EU-Politik und, ganz pauschal, „die EU“ werden von vielen kritisiert. Ist die Kritik berechtigt?
Guido Zeitler, NGG-Vorsitzender: Ja, das ist sie in Teilen. Auch wir haben Entscheidungen des EU-Parlaments und der europäischen Institutionen in der Vergangenheit scharf kritisiert. Zum Beispiel war der Umgang mit dem hochverschuldeten Griechenland falsch. Die knallharte Sparpolitik ging allein zu Lasten der Bevölkerung und hat Menschen schuldlos in Armut getrieben. Auch wurde die extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit in den südlichen EU-Ländern stiefmütterlich behandelt. Wirklich wichtige Themen wurden falsch – nämlich im Sinne der Konzerne und Banken und nicht der Menschen – oder gar nicht angegangen. So hat sich der Eindruck eingestellt, dass sich EU-Politik vor allem um die Krümmung von Gurken oder Öl-Kännchen auf Restauranttischen kümmert. Kein Wunder, dass viele Menschen unzufrieden sind.
Um was kümmern sich denn die EU-Politikerinnen und Politiker tatsächlich?
Auf EU-Ebene wird vieles entschieden, das uns ganz direkt angeht. Zum Beispiel, ob wir in Europa unkompliziert reisen und bezahlen können. Oder, noch konkreter, dass wir imEU-Ausland seit 2017 keine horrenden Preise mehr für die Handynutzung zahlen müssen. Wir alle sollten also unser demokratisches Recht wahrnehmen und darüber abstimmen, wer uns vertritt. Bei der Wahl 2014 haben europaweit nur rund 43 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben – zu wenig angesichts der Bedeutung. Für die kommende EU-Wahl gilt das sogar in einem besonderen Maße.
Warum ist die Europawahl am 26. Mai besonders wichtig?
Wenn die Populisten und Europa-Gegner gewinnen, steht die Idee des vereinten, friedlichen Europas tatsächlich in Frage. Nicht erst die knappe Entscheidung der Wählerinnen und Wähler in Großbritannien für den Brexit sollte aber deutlich gemacht haben, dass jetzt gehandelt werden muss. Das Motto muss heißen: Ja zu Europa – aber richtig!
Das klingt so, als stünde das "Projekt Europa" an einem Scheideweg?
Ja, das Projekt, das uns die längste Friedensphase überhaupt verschafft hat, droht zu scheitern. Ich hoffe, Parlamentarier und Wählerinnen haben den Warnschuss Brexit gehört und handeln entsprechend: Europäische Politik muss die Menschen in den Mittelpunkt stellen. Ein geeintes Europa kann nur als ein soziales, gerechtes und solidarisches Europa funktionieren.
Zu oft hat „die EU“ für Politikerinnen und Politiker – auch aus Deutschland – als Sündenbock hergehalten. Die Schuld für eigene Fehler oder unbeliebte Tatsachen auf das ferne Straßburg oder Brüssel zu schieben, das ist zu billig. Stattdessen muss der Wert Europas herausgestellt und in die gemeinsame friedliche Zukunft investiert werden. Es ist viel Vertrauen zerstört worden, das gilt es zurückzuerobern. Ein starkes geeintes Europa ist heute auch aus wirtschaftlicher Sicht wichtiger denn je. Im von US-Präsident Donald Trump angezettelten weltweiten Handelskrieg kann sich kein europäisches Land alleine behaupten. Auch Klimawandel und Digitalisierung machen an keiner Staatsgrenze halt. Deshalb muss die EU gestärkt und weiterentwickelt werden.
Dieses Interview erschien zuerst in der „einigkeit“ Nr. 1, 2019. Die "einigkeit" erscheint auch digital in der App.