Ein Erster Blick in den Koalitionsvertrag von Union und SPD Zeitler: „Wachsam bleiben: Denn für uns Gewerkschaften geht die Arbeit jetzt erst richtig los“

10. April 2025

Guido Zeitler, Vorsitzender der Gewerkschaft NGG, zum Koalitionsvertrag, der gestern Nachmittag in Berlin vorgestellt wurde:

"Ein paar richtige und vielversprechende Vorhaben der künftigen Koalition kannten wir schon aus den Sondierungsergebnissen und den Grundgesetzänderungen, die der Bundestag anschließend vornahm. Das „Sondervermögen Infrastruktur“ in Höhe von 500 Milliarden Euro für die nächsten 12 Jahre ist daher ein immens wichtiger Schritt. So können überfällige Bau- und Modernisierungsmaßnahmen für Kitas, Schulen und Daseinsvorsorge nachgeholt und die Klimaneutralität vorangetrieben werden. Im Weiteren soll nun die Schuldenbremse reformiert werden. Das ist richtig.

Ein erster Blick in den Koalitionsvertrag zeigt nun bei allen weiteren Detailvorhaben „Licht und Schatten“. Es gibt die richtigen Ideen dazu, dass die Belastungen für Mieten oder für Energiekosten gesenkt werden sollen. Bildung und neue Technologien sollen einen starken Stellenwert bekommen, Digitalisierung im Alltag und bei Behörden soll das Leben der Menschen moderner und einfacher machen.

Aber gleichzeitig stehen alle Vorhaben im Koalitionsvertrag unter Finanzierungsvorbehalt und genau hier müssen und werden wir wachsam bleiben. Zwar soll zur Mitte der Legislaturperiode die Einkommenssteuer für kleine und mittlere Einkommen gesenkt werden, aber ohne klarzustellen, dass „starke Schultern“ mehr tragen müssen. Also keine Einführung einer Vermögenssteuer oder Anpassung der Erbschaftssteuer. Mit welchen Einsparungen werden dann aber die Löcher im Staatshaushalt gestopft? Denn die werden entstehen durch angekündigte Steuersenkungen oder Geschenke, wie die Wiedereinführung der Subventionen für Agrardiesel oder die Reduzierung der Mehrwertsteuer für das Gastgewerbe. Diese lehnen wir ab, denn schon in der Vergangenheit wirkte sich der reduzierte Mehrwertsteuersatz nicht positiv auf die Löhne oder Arbeitsbedingungen in der Branche aus.

Gute Arbeit, eine starke Wirtschaft, eine gerechte Verteilungspolitik und soziale Sicherheit hängen untrennbar zusammen und können sich gegenseitig verstärken. Deshalb begrüßen wir ausdrücklich zum Beispiel die Entlastung bei den Energiekosten für Unternehmen genauso wie das Bekenntnis dazu, dass die Mitbestimmung für Betriebsräte weiterentwickelt werden soll, die Gewerkschaften ein digitales Zugangsrecht in die Betriebe erhalten und die Tarifbindung erhöht werden muss.

Daher: Grundsätzlich gut, dass es nun endlich das lang geforderte Bundestariftreuegesetz geben soll. Richtig super für die Arbeitnehmer*innen generell in Deutschland wäre es aber gewesen, dieses einzubetten in einen nationalen Aktionsplan zur Förderung der Tarifbindung. Zwar steht die steuerliche Absetzbarkeit von Gewerkschaftsbeiträgen im Koalitionsprogramm (das finden wir natürlich auch gut), aber für mehr wirksame Tarifbindung müssen auch die Arbeitgeber stärker in die Pflicht genommen werden.  

Richtig Arbeit und Mühe wird uns die neue Bundesregierung wohl wegen ihrer Pläne machen, die tägliche durch eine wöchentliche Höchstarbeitszeit zu ersetzen. Aber der werden wir uns kritisch und energisch stellen. Denn eine derartige Verschlechterung des Arbeitszeitgesetzes stärkt nicht die Wettbewerbsfähigkeit, sondern ist kontraproduktiv. Die arbeitsmedizinische Forschung hat nachgewiesen, dass lange tägliche Arbeitszeiten die Gesundheit beeinträchtigen und das Unfallrisiko steigt. Darüber hinaus stehen sie der Gleichstellung von Männern und Frauen und einer echten Vereinbarkeit von Familie und Beruf entgegen. Denn lange tägliche Arbeitszeiten fördern gerade nicht die Umverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit, wie sie der Koalitionsvertrag eigentlich fördern will. Auch die weiteren Pläne wie steuerfreie Zuschläge für Mehrarbeit, die über die tarifliche (oder sogar über die an Tarifverträgen orientierte) Vollzeitarbeit hinausgehen, sind beschäftigungspolitisch wie auch gleichstellungspolitisch nicht sinnvoll. Dies gilt auch für den steuerlichen Anreiz für einen Wechsel der Arbeitszeit von Teilzeit in Vollzeit.

Wachsam werden wir auch bei dem Vorhaben sein, die Sonntagsarbeit für das Bäckerhandwerk zu erweitern. Eine kopflose Ausweitung der Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen in einer Branche mit hoher Fluktuation und massivem Personalmangel wird der Branche eher schaden als nützen. Die Voraussetzung für gute Arbeitsbedingungen sind Manteltarifverträge, von denen im Bäckerhandwerk zu wenige existieren. Auch hier muss die Koalition in Sachen Tarifbindung als erstes ansetzen, wenn sie der Branche helfen möchte.

Aufmerksam beobachten werden wir auch, ob es wirklich eine Verbesserung ist, wenn in Handwerk, Gastronomie und Hotellerie zugunsten eines Vertrauensprinzips auf Dokumentationspflichten verzichtet wird. Nach unserer Erfahrung gilt häufig: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

Besonders wichtig für viele Menschen ist die auskömmliche Rente im Alter. Daher ist das Bekenntnis zum abschlagsfreien Renteneintritt nach 45 Beitragsjahren und zur Sicherung des Rentenniveaus auf den ersten Blick erleichternd. Aber schon beim zweiten Blick wissen wir, hier ist Vorsicht geboten. Das Rentenniveau von 48% ist nur bis 2031 gesichert. In der Zeit bis dahin werden Instrumente eingeführt, die nicht das gesetzliche Rentensystem stabilisieren, sondern mal wieder mit kapitalgedeckten Anlageformen experimentieren (Frühstart-Rente), oder auf längeres Arbeiten im Alter setzen.

Die Arbeit fängt also gerade erst an. Wir werden uns im Interesse der Arbeitnehmer*innen in der Ernährungsindustrie, im Gastgewerbe und im Lebensmittelhandwerk einbringen: Konstruktiv wo geboten und kritisch und energisch überall da, wo erforderlich. Gemeinsam mit unseren Mitgliedern und den Betriebsräten in den Betrieben."